Presseartikel: Lese-Rechtschreib-Schwäche begleitet Betroffene ein Leben lang
Wie schreibt man das Tier? „Pferd“, „pferd“, „pfert“ oder etwa „färt“? Gesprochen klingen die Worte gleich. Und während viele Menschen intuitiv die richtige Schreibweise wählen, stoßen Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) vor allem in der Grundschulzeit an ihre Grenzen. Und stellen damit sowohl Eltern als auch Lehrer vor große Herausforderungen.
Tanja Filthaut kennt die Problematik. Die Mendenerin ist nicht nur Sprach- und Lerntherapeutin, sondern war als Kind auch selbst von einer Lese-Rechtschreib-Schwäche betroffen.
Wie kann eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert werden?
Es gibt in Deutschland nicht einen Standard-Test, sondern verschiedene Testverfahren. In einem solchen Testverfahren werden die verschiedenen sprachlichen Defizite differenziert. Eltern, die den Verdacht haben, dass ihr Kind an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leidet, können für eine erste Einschätzung auch den Lernserver der Uni Münster nutzen (www.lernserver.de), erklärt Dagmar Hallier, Leiterin der VHS-Fachbereiche Gesundheit, Schulabschlüsse und Grundbildung. Darüber hinaus wird an einigen Mendener Grundschulen eine Testung und Förderung angeboten: Tanja Filthaut führt diese seit mehreren Jahren in Kooperation mit den Lehrkräften der Nikolaus-Groß-Grundschule, der Albert-Schweitzer-Schule Lahrfeld und der St.-Michael-Schule Schwitten durch. Die Kosten werden von den Fördervereinen getragen. Mütter und Väter, die den Verdacht haben, dass ihr Kind an LRS leidet, sollten das vertrauensvolle Gespräch mit dem Klassenlehrer suchen. „Ob ein Kind tatsächlich LRS hat, kann man eigentlich erst am Ende der 2. Klasse sagen“, berichtet Tanja Filthaut. „Entwicklungsverläufe von Kindern sind sehr unterschiedlich, aber ein Risikopotenzial kann bereits im Kindergarten erfasst werden, so dass eine frühe Förderung und somit Abschwächung der Problematik möglich ist.“
Nicht nur auf die Schwächen schauen, sondern auch die Stärken betonen
Ein Kind hat LRS. Was können dessen Eltern tun?
„Der Bildungsweg des Kindes ist viel länger“, bilanziert Tanja Filthaut rückblickend. Sie selbst habe in der Schule besonders aufmerksame und für das Thema sensible Lehrer gehabt, „aber das ist nicht selbstverständlich“. Geholfen habe ihr ihre Freude am Lesen, an Büchern. Eltern sollten ihrem Kind viel vorlesen und auch Hörbücher vorspielen.
Im Laufe der Jahre sei sie „Profi in eigener Sache“ geworden, erklärt die Sprach- und Lerntherapeutin, die heute Kinder mit LRS begleitet und fördert. Von Eltern erwarte sie nicht, dass diese ihr Kind therapieren können, das solle den Experten auf diesem Gebiet überlassen werden: „Aber ich erwarte ein Herzensverständnis für das Kind. Solidarität mit dem Kind ist gut und wichtig.“ Auch sollten Eltern eines LRS-Kindern nicht nur auf die Schwächen des Nachwuchses schauen, sondern dessen Ressourcen fördern und die Stärken betonen.
Haben Lehrer bei LRS-Kindern einen Spielraum?
In manchen Schulen, so berichten Tanja Filthaut, wird die Rechtschreibung aus der Benotung von Arbeiten herausgenommen. Langfristig sei es wichtig, dass Kinder mit LRS die Rechtschreibung trotz aller Widrigkeiten lernen. Die Rechtschreibung aus der Benotung herauszunehmen, solle also kein Freibrief für die Kinder sein, sondern etwas Druck aus der Situation nehmen: „Es geht darum, faire Bedingungen zu schaffen.“
Therapie in Kleingruppen
Welche Qualifikation sollte ein Experte, der sich um LRS-Kinder kümmert, haben?
„Der Begriff LRS-Therapeut ist nicht geschützt“, erläutert die Mendenerin Tanja Filthaut. Erfragen sollen die Eltern die Qualifikation des Therapeuten. Er solle Pädagogik oder Psychologie studiert haben. Zudem seien Kleingruppen wichtig. Erfragen sollten die Eltern auch, ob die Förderkraft als Lese-Rechtschreib-Therapeut nach dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) zertifiziert ist, so Tanja Filthaut.
Wie wird die Förderung von Kindern mit LRS finanziert?
Wenn das Kind einer Förderung außerhalb der Schule bedarf, dann müssen die Eltern dies in der Regel privat bezahlen. Die Kosten belaufen sich nach Angaben von Tanja Filthaut auf durchschnittlich 140 Euro pro Monat. Sinnvoll seien hierfür Einzelstunden oder Kleingruppen von maximal vier Kindern. Nicht alle Eltern können diese Summe finanziell stemmen. „Bildung kostet – und in diesem Punkt leben wir in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft“, bilanziert Tanja Filthaut. Der heimische Volkshochschul-Leiter Achim Puhl fügt hinzu: „Wir stehen als Gesamtgesellschaft vor der Verantwortung, diese Kinder nicht fallen zu lassen.“
Viele Schulen sind nicht auf eine entsprechende Förderung vorbereitet
Lese-Rechtschreib-Schwäche ist auf einmal ein so großes Thema. Woran liegt das?
„Es gibt heute eine größere Sensibilisierung dafür, dass die Schüler möglichst gut durch das angebotene Bildungssystem kommen“, erläutert Achim Puhl. „Man versucht, Kinder so viel wie möglich zu fördern und ihnen den höchstmöglichen Abschluss zu ermöglichen.“ Der Anspruch der Eltern sei gewachsen. Doch die meisten Schulen seien im Gegenzug verständlicherweise nicht darauf vorbereitet, eine adäquate Förderung der Kinder, die an LRS leiden, durchzuführen.
Wo liegen die Ursachen für eine Lese-Rechtschreib-Schwäche?
„Die Ursache ist genetisch bedingt“, erklärt Tanja Filthaut. Wenn ein Elternteil LRS hat, dann sei die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind auch LRS hat, viermal so hoch wie bei anderen Kindern. Wie erfolgreich der Bildungsweg mit einer LRS verläuft, hänge hingegen mit weiteren Faktoren wie Lernstruktur, Intelligenz, Bildungs- und Sozialkontext zusammen.
Ist eine Lese-Rechtschreib-Schwäche heilbar?
Diese Teilleistungsstörung begleitet die Betroffenen ein Leben lang, weiß Tanja Filthaut aus eigener Erfahrung. „Eine Ärztin, die auch LRS hat, hat mir mal gesagt: ,Mit LRS geht alles – nur schwerer.’ Und damit hat sie recht.“ Trotz ihrer LRS at Tanja Filthaut das Abitur gemacht „und zwar mit Deutsch als Leistungskurs und habe dann auch noch Sonderpädagogik und Linguistik studiert. Heute kann ich Texte fehlerfrei schreiben, aber es verlangt mir immer noch mehr Aufmerksamkeit ab, als einem Mitmenschen, der sich ebenso gerne und intensiv mit Sprache beschäftigt wie ich. Und manchmal passiert dann doch noch ein Fehler, aber der passiert ja Menschen ohne LRS auch, oder?“
Angebot der heimischen VHS
Die heimische VHS bietet seit 2004 Kurse zum Thema Bielefelder Screening für Erzieher an. Durch das Bielefelder Screening stellen die Erzieher im Kindergarten fest, welche Mädchen und Jungen LRS-Risikokinder sind. Die Förderung kann dann bereits im Kindergarten beginnen. So konnte die Risikokinder-Quote von gut 21 Prozent (bei der ersten Testung) auf gut fünf Prozent (vor der Einschulung) gesenkt werden, erläutert Dagmar Hallier. Doch die tatsächliche Quote von Kindern, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben, schätzen sowohl Dagmar Hallier als auch Achim Puhl und Tanja Filthaut weitaus höher ein: Danach haben 15 bis 20 Prozent aller Kinder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Darüber hinaus hat die VHS viele Jahre Kurse für Erwachsene mit LRS-Problematik angeboten. Denn: „LRS wächst sich nicht aus.“
Die VHS wäre auch bereit, die Testung und Förderung von LRS-Kindern zu übernehmen. Das wäre möglich durch eine entsprechende Kooperation mit einer der heimischen Schulen. Die Initiative hierfür müsste dann von der jeweiligen Schule ausgehen.
Von Corinna Schutzeichel